Dass es zu Engpässen in der Patientenversorgung mit Impfstoffen, Antibiotika oder Nitrospray kommt, ist keine Seltenheit. Rücken die Probleme in den Fokus der Bevölkerung, wie in der letzten Grippesaison, in der zu wenige Impfstoffdosen für die vielen impfwilligen Patienten verfügbar waren, reagiert die Politik. Öffentliche Ausschreibungen für Grippeimpfstoffe wurden abgeschafft (1).

Betreffen die Probleme im Gegensatz dazu kleinere Patientengruppen, bleibt die Empörung Sache Einzelner, wenn es z. B. keine Alternative zu einem zuzahlungspflichtigen Arzneimittel gibt. Mangels Öffentlichkeit spielen sich diese Defizite als Zankapfel von Arzneimittelherstellern und dem Spitzenverband der Krankenkassen hinter verschlossenen Türen ab. Aus welchen Gründen sie Arzneimittel in bestimmte Festbetragsgruppen einordnen, muss der Kassenverband nicht transparent erklären. Den Herstellern bleibt nur der Klageweg über die Sozialgerichte – ein zeit- und kostenintensiver Prozess. Einschränkungen der Patientenversorgung – wie sie z. B. durch das Fehlen zuzahlungsfreier Therapieoptionen entstehen, können rein rechtlich nur von den Patienten selbst eingeklagt werden. Das Problem: Diese wissen in der Regel nichts von ihrem Recht. Die Versorgungsdefizite bleiben.

Ein weiteres Problem: Die absolute Höhe der Festbeträge. Durch den nationalen Preisverfall wächst die Diskrepanz zum europäischen Preisniveau seit Jahren (2). Wenn der Vertrieb in Deutschland für Arzneimittelhersteller wirtschaftlich nicht mehr attraktiv ist, ziehen sie sich aus dem Markt zurück. Hier zwei Beispiele:

  • Einer oralen Darreichungsform des Neurolepitkums Quiatipin, speziell entwickelt für Patienten mit Schluckbeschwerden, wurde im AMNOG-Verfahren vom G-BA kein Zusatznutzen bescheinigt. Der Preis für die galenische Neuentwicklung wurde daraufhin vom GKV-Spitzenverband auf das niedrige Festbetragsniveau der üblichen oralen Arzneiformen festgesetzt. Die neu entwickelte Darreichungsform wurde daraufhin nicht vermarktet.
  • Auch die Entwicklung kindgerechter Darreichungsformen wird blockiert. Obwohl die Europäische Kommission mit sog. PUMA-Zulassungen – Paediatric Use Marketing Authorisation – die Besonderheit von Kinderarzneimitteln anerkennt und Entwicklungen auf diesem Gebiet ausdrücklich begrüßt, scheitern die Hersteller beim G-BA, wie das Beispiel von Alkindi® zeigt, das Arzneimittel mit dem bekannten Wirkstoff Hydrocortison wurde speziell für Kinder entwickelt (3). Auch dem Fertigarzneimittel Slenytol® mit dem Wirkstoff Melantonin zur Behandlung von Schlafstörungen bei Kindern mit Autismus droht dieses Schicksal (4), weil der G-BA vermutlich keinen Zusatznutzen bescheinigt. In diesem Fall können Hersteller bei Preisverhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband keine angemessenen Preise erzielen. Damit fehlen die wirtschaftlichen Anreize für die Entwicklung spezieller Kinderarzneimittel, was die Versorgung von Kindern in Deutschland weiter einschränkt.

Nicht Fehlplanungen der Absatzmengen sind das Problem

Pharmazeutische Hersteller sind Wirtschaftsunternehmen, die Gewinne erzielen müssen. Sie selektieren Absatzmärkte nach wirtschaftlichen Kriterien. Deutschland gerät durch rigide nationale Marktregulierungen ins Hintertreffen, die Patientenversorgung leidet. Und nicht nur das: Auch der Forschungsstandort. Forschungsaktivitäten und damit Arbeitsplätze in den vielen kleinen und mittelständischen Arzneimittel- und Medizintechnik-Unternehmen in Deutschland sind gefährdet, wenn sich Schritt-Innovationen in Deutschland nicht mehr refinanzieren lassen.

Eine gute Patientenversorgung braucht Therapievielfalt

Die Konzentration auf einen oder wenige Anbieter schränkt sowohl die Wahlfreiheiten in der Therapie als auch den Wettbewerb ein. Mit dem Wettbewerbsstärkungsgesetz aus dem Jahr 2007 hatten die politisch Verantwortlichen das Gegenteil im Sinn. Es muss sich auch in Zukunft lohnen, z. B. Schrittinnovationen zu entwickeln und in Deutschland in Verkehr zu bringen. Verbesserung der Galenik oder neue Darreichungsformen, die auf ein Plus an Lebensqualität für Patienten abzielen, müssen finanzierbar bleiben.

Appell an die gesundheitspolitisch handelnden Akteure

„Die Instrumente, die 2007 eingeführt wurden, um steigende Ausgaben für die Arzneimittelversorgung einzudämmen, verfehlen ihre Wirkung und verschlechtern die Versorgungssituation der Patienten,“ davon ist Klaus H. Kober überzeugt. Was gesundheitspolitisch gesteuert wird, lässt sich nur mit dem politischen Hebel wieder korrigieren. „Deshalb fordere ich 3 pragmatische Schritte, um Patientenversorgung und Therapievielfalt nachhaltig zu verbessern“:

  1. Arzneimittel Preisverfall stoppen! Deshalb sollen die europäischen Arzneimittelpreise bei der Festlegung von Festbeträgen hier in Deutschland einbezogen werden mit einer Festbetragsuntergrenze in § 35 SGB V, die sich an den europäischen Durchschnittspreisen orientiert.
  2. Mehr Transparenz! Der GKV-Spitzenverband sollte seine Begründung von Festbetragseingruppierungen verpflichtend offenlegen müssen, d. h. Pflicht zur Veröffentlichung aller Festbetragsfestsetzungen gleich der Veröffentlichungspflicht des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 35 Abs. 1b Satz 6 SGB V. Für Festbeträge der Stufe 1 müssen künftig medizinisch notwendige Verordnungsalternativen innerhalb der Festbetragsgruppe verfügbar sein.
  3. Bessere Aufsicht! Externe Sachverständige sollten stichprobenartig alle zwei Jahre die ordnungspolitische Konformität im Sinne von Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit, auch aus Patientensicht, überprüfen. Die Rechte der Patienten müssen bei allen versorgungsrelevanten Entscheidungen vertreten sein, auch wenn diese die hochkomplexe Materie der Rabatt- und Festbeträge betreffen.

Digitalisierte Gesundheitsversorgung fordert neue Steuerungsinstrumente

Blick in die Zukunft: Die Nutzenbewertung und damit auch die Preismodelle für die Erstattung von Arzneimitteln und Medizinprodukten wird sich durch die Digitalisierung grundlegend verändern. Regulierungsinstrumente, die eingeführt wurden, um steigende Arzneimittelausgaben einzudämmen, (Rabattverträge, Festbeträge und das Preismoratorium) stammen allesamt aus der prädigitalen Ära. Im zunehmend globalisierten, digitalisierten Marktumfeld verfehlen sie ihre Wirkung. Kostentreiber sind Innovationen, die oft für sehr kleine Versichertenzielgruppen einen großen Nutzen versprechen (5,6,7). Es ist Zeit auch die Steuerungselemente anzupassen: Mit Daten von Patienten aus Apps und Wearables gibt es eine neue, eine sog. „Real World Evidenz“. Damit lässt sich die tatsächliche Versorgungssituation von Patienten mit Daten aus der Lebenswirklichkeit der Patienten realistischer einschätzen. Anders als in klinischen Studien können damit Patientenpräferenzen auch in die Nutzenbewertung von Therapien einbezogen werden. Eine neue Ära in der Gesundheitsversorgung kann beginnen, die sich viel stärker am unmittelbaren Nutzen für den Patienten orientieren kann.

Digitalisierung eröffnet darüber hinaus neue Möglichkeiten auf bessere Früherkennung und auf Individualisierung bzw. Personalisierung der Medizin. Sie weckt berechtigte Hoffnungen, die Gesundheitsversorgung zu Gunsten von Früherkennung und Prävention zu verändern und auf diesem Weg Ressourcen frei zu machen für die Finanzierung von Innovationen.

„Und dazu werden auch zukünftig Schritt-Innovationen gehören, deren Stellenwert durch Einbeziehung von Patientenpräferenzen an Bedeutung gewinnen wird,” ist Klaus H. Kober überzeugt (8).

Quellen

  1. Grippeimpfstoff: Ausschreibungen abgeschafft https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2017/03/17/impfstoff-rabattvertraege-verlieren-ihre-exklusivitaet
  2. So entstehen Preise in Europa: https://www.gkv-spitzenverband.de/media/grafiken/arzneimittel_1/Grafik_Arzneimittelpreise_in_Eur_600_2012-02-28.jpg
  3. Alkindi: https://www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/pharmazie/alkindi-aerger-um-g-ba-entscheidung/
  4. Slenyto: https://www.gelbe-liste.de/paediatrie/slenyto-zulassung-insomnie-kinder-autismus
  5. Neue Arzneimittel als Kostentreiber: https://www.gkv-spitzenverband.de/media/grafiken/arzneimittel_1/rabattverhandlungen_amnog/GKV_Grafik_neue_Arzneimittel_als_Kostentreiber_03_18804.jpg
  6. Innovationen für wenige Versicherte: Beispiel Hepatitis C Therapie: https://www.apotheken-umschau.de/Hepatitis-c/Hepatitis-C-Heilung-moeglich-aber-hohe-Kosten-544841.html
  7. FDA-Zulassung: Teuerstes Medikament der Welt in den USA erhältlich https://www.heise.de/newsticker/meldung/Gentherapie-als-Goldesel-4432293.html
  8. Interview mit Klaus H. Kober: Eine gute Patientenversorgung braucht Therapievielfalt. Gefahr durch gesundheitspolitische Fehlsteuerung  https://youtu.be/GOo8zGFhjHE
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